
„Skateboarding, das ist Selbstbestimmung pur!“
Für die einen ist es einfach nur ein Brett mit vier Rollen. Für Titus Dittmann (76) ist es das Brett, das die Welt bedeutet. Im Interview verrät der Skateboard-Pionier und Social Entrepreneur, was das Skateboarden alles mit unseren Kindern macht. Und warum Kids mit ADHS davon in besonderem Maße profitieren.
Titus, Du giltst als Vater der deutschen Skateboard-Szene, hast den damaligen Nischensport aus den USA und die Jugendkultur des Skateboardings hierzulande erst salonfähig gemacht. Was macht für Dich die Faszination am Skateboarden aus?
Titus Dittmann: Skateboarding ist mehr, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Es ist nicht nur eine Sportart. Es ist Selbstbestimmung pur! Kein Trainer, der einem sagt, wie man was machen muss. Die Kids entscheiden selbst über das Wann, Wo und Wie und darüber, welchen Trick sie als Nächstes lernen. Durch das selbstbestimmte Lernen in erwachsenenfreien Räumen erfahren die Kinder Selbstwirksamkeit. Und sie lernen, was es heißt, für sich selbst verantwortlich zu sein. Das macht unsere Kinder stark!
Bevor Du mit Deinem Unternehmen TITUS im großen Stil ins Skateboard-Business eingestiegen bist, warst Du Lehrer für Sport und Geografie. Wie haben Deine Schüler reagiert, als Du zum ersten Mal mit einem Skateboard unter dem Arm zum Sportunterricht gekommen bist?
Die fanden das geil! Am Anfang hatten wir keine Ahnung, was man mit dem Brett alles machen kann. Es gab ja kein Internet. Daher haben meine Schüler und ich viel experimentiert. Wir haben Tricks und neue Sportartvarianten wie Skateboard-Fußball und -Basketball erfunden. Das war Pioniergeist pur und hat einfach nur Spaß gemacht!
Sollte Skateboarding Deiner Meinung nach ein fester Bestandteil deutschen Schulsportunterrichts sein?
Früher war das tatsächlich mein Wunsch, heute allerdings nicht mehr. Das hat viel mit Olympia zu tun. Als olympische Disziplin wird Skateboarding in der Gesellschaft mehr als Leistungssport wahrgenommen. Dadurch verliert es immer mehr Kraft als pädagogisches Werkzeug, das auf ästhetischer Gesinnungsgenossenschaft und kulturellem Ausdrucksmittel aufbaut. Der Leistungssportgedanke nimmt dem Ganzen leider die Freiheit und Selbstbestimmtheit, da hier ja eine Art von Normierung stattfindet. Gut wäre, wenn Skateboarding im Rahmen des selbstbestimmten Lernens an Schulen angeboten würde, um Kinder stark und resilient zu machen. Aber bitte nichts, was mit Noten und fremdbestimmtem Leistungsdruck zu tun hat.
Du warst nicht nur Lehrer, sondern – wie wir alle – auch Schüler. Dich selbst hast Du mal als „Horror der Lehrerschaft“ bezeichnet. Was hatten die Lehrer an Dir auszusetzen?
Ich hatte einen sehr ausgeprägten Spieltrieb und nur wenig bis gar keine Motivation, über längere Zeit stillzusitzen und den Vorträgen des Lehrers zu folgen. Zudem hatte ich eine besondere Begabung, was Zahlen und logisches Denken angeht. Dadurch war ich gerade im Matheunterricht dauerunterfordert und habe mir irgendwie anders die Zeit vertreiben müssen. Wenn ich dann im Unterricht aus meinen Schreibutensilien kurzerhand einen Flieger baute und damit unter dem Tisch einen Looping nach dem anderen vollführte, fand mein Lehrer das weniger ersprießlich. Für ihn war ich nur der „Spielmops“, der dauernd den Unterricht störte. Ein Taugenichts, an dem sich meine Klassenkameraden nur ja kein Beispiel nehmen sollten.
Was ist ADHS?
ADHS, kurz für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, bezeichnet eine Verhaltensstörung von Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen, die durch die drei Hauptsymptome Hyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität gekennzeichnet ist. Die einzelnen Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und müssen nicht immer alle gleichzeitig auftreten.
Du warst schon weit über 60, als bei Dir ADHS diagnostiziert wurde. Wie ging es Dir nach der Diagnose?
Das war für mich nicht sonderlich überraschend, so was hatte ich mir schon insgeheim gedacht. Ich war ja immer ein bisschen anders als die anderen. Wahrscheinlich habe ich deswegen auch vor 13 Jahren meine Biografie niedergeschrieben. Das war noch vor der Diagnose. Ich nehme an, dass ich damit allen zeigen wollte, dass ich trotz meines Andersseins etwas auf die Reihe bekommen habe. Dass ich etwas aus meinem Leben gemacht habe, was die wenigsten Erwachsenen, die mit mir im Kindesalter zu tun hatten – meine Lehrer eingeschlossen – erwartet hätten.
Wie genau äußert sich Dein ADHS bei Dir?
Ich bin hyperaktiv und überhaupt ein unruhiger Geist. Dadurch bin ich aber auch extrem produktiv. Und mein Denken ist wahnsinnig schnell. Zudem ist meine Impulskontrolle relativ schwach ausgeprägt, was dazu führen kann, dass ich wegen Kleinigkeiten ausflippe.
Wie würdest Du Dein Verhältnis zu Deinem ADHS beschreiben? Extrem produktiv zu sein und schnell denken zu können, ist ja eigentlich nichts Schlechtes …
Ganz ehrlich, für mich ist ADHS ein Segen. Ich habe fünf Highspeed-Leben gleichzeitig geführt und dabei nie schlapp gemacht, habe über 100 Firmen gegründet. Ich bin sehr dankbar, dass ich viel im Leben bewegen konnte und kann, ohne das Ganze als anstrengend zu empfinden. Ich bin 76 und fühle mich wie Mitte vierzig. Wenn das nicht geil ist, weiß ich es auch nicht!

Im Jahr 2010 hast Du die Geschäftsführung der TITUS GmbH Deinem Sohn Julius übertragen und widmest Dich seitdem verstärkt den gemeinnützigen Initiativen und Projekten Deiner nach Dir benannten Stiftung. Ein Projekt unter dem Dach der Initiative skate-aid trägt den Titel „Skaten statt Ritalin“. Worum geht es bei skate-aid und speziell diesem Projekt?
Bei skate-aid nutzen wir die pädagogische Kraft des Skateboardens, um Kinder und Jugendliche weltweit stark zu machen. Dies gelingt über das selbstbestimmte Lernen und intrinsische Motivation. Ausgehend von dieser Art der Motivation, die allein von innen kommt, entwickeln sich wichtige Fähigkeiten wie Zielstrebigkeit, Fokussiertheit, Selbstdisziplin, Leidensfähigkeit und Standhaftigkeit, die der Persönlichkeitsentwicklung zuträglich sind. Hierfür sind wir in Kriegs- und Krisengebieten wie Syrien und Palästina oder auch auf dem afrikanischen Kontinent unterwegs, um Skateparks zu bauen und Skate-Workshops für Kinder und Jugendliche anzubieten.
„Skaten statt Ritalin“ ist eines unserer nationalen Projekte, das sich speziell an Kids mit ADHS-Diagnose richtet. Im Rahmen unserer Skate-Workshops dürfen sich die Kids selbstbestimmt am Skateboarden versuchen. Dabei gilt das pädagogische Buddy-Prinzip: Ein oder zwei Skateboard-Coaches sind vor Ort und stehen den Kids bei Fragen zur Verfügung, nehmen sich aber ansonsten bewusst zurück, um dem selbstbestimmten Lernen freien Lauf zu lassen. Es geht darum, dass sich die Kids aus ihrer intrinsischen Motivation heraus Ziele stecken, beispielsweise einen Ollie zu stehen (Anm. d. Red.: Skateboard-Trick, bei dem Fahrer und Board in die Luft springen, ohne die Hände zu benutzen). Lässt man die Kinder in Ruhe und einfach ihr Ding machen, bilden sich solche selbstgestecken Ziele von ganz alleine. Von einem Aufmerksamkeitsdefizit oder fehlender Konzentration ist dann nichts mehr zu spüren. Und wenn dann, nach einer Zeit des beharrlichen Übens und dem einen oder anderen Sturz – denn auch das gehört zum Skateboarden dazu –, der Trick endlich zum ersten Mal klappt, dann erleben die Kids Selbstwirksamkeit in ihrer reinsten Form. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl, welches das oftmals niedrige Selbstkonzept dieser Kinder enorm hebt.
„Skaten statt Ritalin“ – ist der Projektname tatsächlich wörtlich zu nehmen? Das Medikament wird ja seit Jahren erfolgreich in der ADHS-Therapie eingesetzt …
Der Name ist bewusst provokant formuliert, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. Wir sind keine Mediziner und wollen Ritalin auch nicht abschaffen. Ich selbst nehme das Medikament seit rund zehn Jahren. Uns geht es vielmehr darum, bei den Kids die körpereigene Ausschüttung von Endorphinen und Dopamin hervorzurufen, also alles, was aufs Belohnungszentrum wirkt und nicht künstlich von außen zugeführt wird. Die Erfolgserlebnisse beim Skaten können genau das bewirken.
Als Forschungsprojekt wurde „Skaten statt Ritalin“ von der Universität Münster wissenschaftlich begleitet. Zu welchen Ergebnissen kam die Studie?
An der Studie teilgenommen haben Kinder im Alter von 8 bis 13 Jahren mit gesicherter ADHS-Diagnose. Die Kinder, alle Skateboard-Anfänger, haben über einen Zeitraum von vier Monaten für eine Doppelstunde die Woche an einem unserer Skate-Workshops teilgenommen, wobei zusätzliches Skaten außerhalb der Projektstunden erlaubt war. Die Studienergebnisse bestätigen ganz klar die Effektivität unserer Workshops: Die ADHS-Symptomatik der Teilnehmenden konnte im Schnitt um 30 Prozent reduziert werden. Während sich die Kids in den Bereichen Konzentration und Aufmerksamkeit um 20 beziehungsweise 25 Prozent verbesserten, verringerten sich Unruhe und Impulsivität um 33 beziehungsweise 28 Prozent. Bemerkenswert war zudem, dass das Aggressionsverhalten um ganze 60 Prozent zurückging.
Was rätst Du Eltern, die gerade erfahren haben, dass ihr Kind ADHS hat?
Eltern sollten die Diagnose nicht zum Anlass nehmen, ihr Kind anders zu behandeln als vorher. Vor allem sollten sie ihrem Kind nicht suggerieren, dass es krank oder gar ein Loser ist. Glauben Sie an Ihr Kind und stärken Sie sein Selbstbewusstsein. Anders zu sein und aufzufallen ist nichts Schlimmes, im Gegenteil. Wenn man seine Stärken stärkt und sich zu den Schwächen bekennt, kann ADHS ein Riesenvorteil sein.

Mehr über das bewegte Leben von Skateboard-Legende Titus Dittmann und seine Initiative skate-aid lesen Sie in der Autobiografie „Brett für die Welt“ (Coppenrath Verlag, 384 Seiten, 24,00 Euro).