FAMILIE Es ist sehr unterschiedlich in Deutschland. In manchen Fami- lien ist es ganz normal, dass die Kinder bei den Eltern im Bett schlafen. Bei einer großen Erhebung, bei der auch nach den Schlafgewohnheiten gefragt wurde, kam heraus, dass mittler- weile weit mehr Kinder bei den Eltern im Bett schlafen als noch bei der vorherigen Erhebung 15 Jahre zuvor. Eltern leben auf verschiedenen Planeten. Auf meinem Planeten ist es inzwi- schen völlig normal, die Kinder bei sich zu haben. Bei anderen ist es umstritten, bei wieder anderen ist es ein No-Go. Neben Ihren Büchern gibt es noch eine ganze Reihe weiterer zum Thema. In einem Bestseller bekommt man Tipps, wie man Kinder daran gewöhnt, alleine im eigenen Zimmer einzuschlafen. Wie kann es so komplett unterschiedliche Schulen geben? Die Schlaffrage berührt die tiefste aller Fragen: Es geht um die persönliche Vorstellung von Beziehung und um tief verwurzelte Annahmen über Nähe und Distanz. Da spielen Ängste eine Rolle, die das Verhalten prägen – etwa die Angst, dass ein Kind nicht selbstständig wird, wenn man ihm die Nähe gibt, die es fordert. Auch die Angst, zu oft nachzugeben, ist für viele Eltern ganz furchtbar. Wenn das Kind ins Bett kommt, sagen sie: Ich kann doch nicht immer nachgeben, was wird denn dann aus meinem Kind? Und da steht dann die Frage im Raum: Müsste ich das Nest vielleicht nicht ganz so behaglich auskleiden, damit das Kind mal fliegen lernt? Sie glauben also nicht, dass zu viel Nähe die Selbstständigkeit hemmt? Nein, dahinter liegt ein Missverständnis, nämlich dass Nähe und Selbstständigkeit in Konkurrenz zueinander stehen und dass sich Selbstständigkeit nur entwickelt, wenn man der Nähe einen Riegel vorschiebt. Das ist nicht so. Selbststän- digkeit entwickelt sich dann, wenn die Kinder das Kapital haben: Wenn sie sich sicher, wenn sie sich wohl fühlen. Dann haben sie irgendwann den Drang, ihr Ding zu machen. Bindung macht Kinder stark und selbstständig. Das ist kein Widerspruch, das eine ist ins andere eingekabelt. Zusammengefasst: Pädagogisch halten Sie es also nicht für sinnvoll, dass Kinder so früh wie möglich in ihren eigenen Zimmern schlafen? Es widerspricht dem natürlichen Bindungssystem. Natür- lich gibt es Kinder, die von Anfang an auch alleine schlafen können. Die lassen sich einfach hinlegen, und wenn das so funktioniert – kein Problem. Aber die meisten Kinder sind anders gestrickt. Die meisten suchen mehr Nähe. Und 10 dann bringt das Alleineschlafen keinen pädagogischen Gewinn. Ich sehe eher das Risiko, dass Eltern nicht auf die Bedürfnisse ihres Kindes achten, weil sie meinen, sie müssten einer Norm genügen. Selbst wenn Kinder sich ein bestimmtes Verhalten angewöhnen, heißt das noch lange nicht, dass sie in ihrer Entwicklung davon profitieren. Na- türlich kann ich zum Beispiel ein Kind dazu bringen, immer schön „Danke“ zu sagen – aber in seiner Entwicklung ist es keinen Schritt weiter, sondern eher einen Schritt näher bei der Lüge, weil es gelernt hat, immer das zu machen, was Erwachsene sich wünschen. Genauso schafft ein Kind es vielleicht, alleine zu schlafen – aber was bringt ihm das? Haben diese Ängste, von denen Sie sprachen, auch etwas damit zu tun, dass Eltern einfach gerne das schöne Leben zu zweit weiterleben würden? Ja, auch das ist denkbar und verständlich. Wir Eltern haben ja immer noch unsere Paarbeziehung und oft kommt ihr die Kindererziehung in die Quere. Das Kinder- haben verhält sich zur romantischen Liebe wie ein Reißnagel zum Luftballon. Die Wahrheit ist leider, dass man Lösungen finden muss, die nicht dauerhaft zulasten eines Teilnehmers gehen. Die Teilnehmer sind die beiden Eltern und die Kinder. Wir müssen da Kompromisse finden. Das ist schwer. Kann es sein, dass bei älteren Kindern, die auch noch bei den Eltern schlafen wollen, eine Machtkomponente dazukommt: Mal gucken, wie weit ich komme? Vielleicht. Das müssen Eltern zu unterscheiden lernen: Welches Bedürfnis ist echt, wo geht es um etwas anderes, etwa um den bloßen Wunsch eines Kindes oder eben eine Gewohnheit. Ein elfjähriges Kind muss nicht geschützt werden im Bett der Eltern. Wenn das den Eltern nicht guttut, dann redet man darüber und findet eine Lösung. Es ist ein Aushandeln von Interessen wie in einem Dreieck. Die Inte- ressen der Eltern gehören auch dazu. Herbert Renz-Polster (59) ist Kinderarzt und Autor. Zu seinen Büchern gehören „Schlaf gut, Baby“, „ Erziehung prägt Gesinnung“ und „Kinder verstehen“. In seiner Kolumne in der Süddeutschen Zeitung beantwortet er Erziehungs- fragen von Leserinnen und Lesern. Er hat vier erwachsene Kinder und lebt in Baden-Württemberg.